Was ist Sexualisierte Gewalt?
Die Sexualität ist einer der intimsten Bereiche des Menschen. Eine Verletzung in dieser Sphäre löst ein Höchstmaß an Erniedrigung bei den Betroffenen aus. Diesen besonders sensiblen Bereich nicht schützen zu können erzeugt das Gefühl, unterworfen und ohnmächtig zu sein. Das Thema „Sexualisierte Gewalt“ ist nicht neu, erfährt aber in letzter Zeit aufgrund öffentlich bekannt gewordener Vorfälle eine höhere Aufmerksamkeit. Dabei werden in den Medien und Ratgebern verschiedene Begriffe zur Beschreibung verwendet, zum Beispiel „Sexuelle Gewalt“, „Sexueller Übergriff“ oder „Sexueller Missbrauch“. Umgangssprachlich wird häufig der Begriff „Kindesmissbrauch“ benutzt. In der Fachöffentlichkeit wird die Bezeichnung „Sexualisierte Gewalt“ als ein Oberbegriff für verschiedene Formen der Machtausübung mit dem Mittel der Sexualität verwendet.
Unter dem Begriff “Sexualisierte Gewalt“ werden geschlechtsbezogene oder sexualisierende Übergriffe durch Worte, Gesten, Bilder oder Handlungen mit oder ohne direkten Körperkontakt zusammengefasst. Im weiteren Sinne bedeutet „Sexualisierte Gewalt“ Machtausübung, Unterwerfung und Demütigung mit dem Mittel der Sexualität. Die Gewaltform umfasst jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind sowie durch ein Kind vorgenommen wird – und damit eine Verletzung dessen Rechtes auf sexuelle Selbstbestimmung bedeutet. Per Gesetz wird sexuelle Gewalt im engeren Sinne als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung (in Anlehnung an § 177, Abs. 1, StGB) definiert: Die Nötigung zu sexuellen Handlungen mit Gewalt, durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert ist. Neben körperlichen Übergriffen zählen auch Grenzverletzungen verbaler Art, heimliches Beobachten in der Umkleidekabine oder das Zeigen von pornographischen Medien zur „Sexualisierten Gewalt“.
Untersuchungen zeigen, dass etwa jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder neunte bis zwölfte Junge bis zum 18. Lebensjahr sexuelle Gewalterfahrungen macht. Allerdings nähern sich die Betroffenenzahlen zwischen Mädchen und Jungen immer mehr an. Die meisten Kinder sind zum Zeitpunkt der Missbrauchshandlungen zwischen sechs und dreizehn Jahre alt, jedoch sind auch Säuglinge und Kleinkinder sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Kinder, die aufgrund einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung einen geminderten Selbstschutz aufweisen, sind in besonderer Weise gefährdet.
Sexuelle Übergriffe geschehen selten spontan, sondern sind meistens vorbereitete und geplante Taten. In der Regel knüpft der Täter oder die Täterin schon im Vorfeld ein immer engeres Beziehungsgeflecht, in welches das zukünftige Opfer verstrickt wird.
Der größte Teil der TäterInnen kommt aus dem sozialen Umfeld des Opfers. Dies können zum Beispiel Familienmitglieder, Bekannte, Pädagogen, Trainer, Übungsleiter oder Jugendliche sein. Der weit überwiegende Teil der Täterschaft ist männlich. Ein Drittel aller Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen und Jungen wird von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren verübt (vgl. Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes, Missbrauch verhindern!, 2013).
Die Formen „Sexualisierter Gewalt“ im Sport unterscheiden sich nicht grundlegend von den Formen in anderen Bereichen der Gesellschaft.
- Sportliche Aktivitäten sind sehr körperbezogen
- Die spezifische Sportkleidung und die Umkleidesituation
- Fahrten zu Wettkämpfen und Freizeiten mit Übernachtungen
- Einzelbesprechungen, Einzeltraining
- Rituale wie Umarmungen z. B. bei Siegerehrungen
- Enge Bindung der Kinder und Jugendlichen an TrainerInnen
- Zum Teil eine geringe Transparenz in der Vereinsarbeit
- Wenig Kontrolle der MitarbeiterInnen in ehrenamtlich geführten Vereinen und Verbänden
- Grenzverletzung bei Kontrolle der Sportkleidung
- Belästigungen exhibitionistischer Art in der Umkleidesituation oder in der Wahl der Sportkleidung
- Übergriffe bei der Hilfestellung
- Verletzungen der Intimsphäre durch Eindringen in Umkleiden und Duschen
- Ausnutzen der engen Beziehung zwischen Sporttreibenden und TrainerInnen
Die sexuelle Entwicklung als Teil der Identitätsentwicklung eines Menschen beginnt bereits mit der Geburt. Kinder sind, wenn auch anders als Erwachsene, sichtbar sexuell aktiv und brauchen einen verlässlichen Rahmen, der Schutz und Orientierung bietet.
Es ist deshalb wichtig, sich mit dem Thema „Sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“ auseinander zu setzen und eine eigene Haltung zum Umgang damit zu entwickeln. Ziel ist es, dass Mädchen und Jungen, Kinder und Jugendliche ihre Sexualität frei entwickeln können, ohne dass dabei eigene oder fremde Grenzen verletzt werden oder vorbestimmte Rollenmuster die persönliche Entfaltung einengen. Eine klare Haltung erleichtert die Vermittlung der Erziehungsziele. Sonst besteht die Gefahr, dass eine klare Abgrenzung von „normaler“ sexueller Aktivität junger Menschen zu sexuellen Übergriffen erschwert wird.
- Für alle sexuellen Handlungen, egal in welchem Alter, gilt: Freiwilligkeit!
- Bei jeder Form von sexueller Übergriffigkeit soll eingeschritten werden. Sonst besteht die Gefahr, dass sich übergriffiges Verhalten festsetzt.
- Sexuelle Aktivitäten nicht verurteilen, aber bewusst Grenzen setzen.
- Darauf achten, dass Kinder bereits frühzeitig die Erfahrung machen, dass ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht nicht durch andere eingeschränkt werden darf.
Grundsätzlich gilt, dass sich Kinder und Jugendliche, die in ihren Bedürfnissen ernst genommen, in ihrer Sexualität nicht tabuisiert oder gar bestraft werden und Fragen stellen können, schneller entwickeln, als Kinder und Jugendliche, die ihre Neugier nicht stillen dürfen. Die Wahrscheinlichkeit für sexuelle Übergriffe nimmt ab, wenn Kinder und Jugendliche aktiv pädagogisch begleitet und ihnen klare Grenzen gesetzt werden.
Ein sexueller Übergriff unter Kindern und Jugendlichen liegt dann vor, wenn sexuelle Handlungen erzwungen werden, bzw. der oder die Betroffene sie unfreiwillig erduldet oder sich unfreiwillig daran beteiligt. Dabei wird ein Machtgefälle zwischen den beteiligten übergriffigen und betroffenen Kindern oder Jugendlichen ausgenutzt, indem z.B. durch Versprechungen, Anerkennung, Drohung oder körperliche Gewalt Druck ausgeübt wird. Weiterhin können Kinder zur Teilnahme an sexuellen Aktivitäten verleitet werden, deren Bedeutung und Folgen sie nicht ermessen können. Eine bewusste Zustimmung kann daher nicht erfolgen, weshalb auch diese scheinbar einvernehmliche Situation als missbräuchlich oder übergriffig einzustufen ist. Sowohl Mädchen als auch Jungen können sexuelle Übergriffe ausüben.
Es gibt auch sexuelle Übergriffe im „Überschwang“, bei denen das übergriffige Kind kein Machtinteresse hat, sondern allein seiner sexuellen Neugier folgt. Mit zunehmendem Alter sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass impulsiver Überschwang eine Rolle spielt.